Montag, 5. Mai 2014

42,195 km Rauschzustand

So, nun will ich mal versuchen, ein bisschen was von Wahnsinn zu ordnen, der sich da gestern zugetragen hat.
Mann, was war ich nervös. Mein Splint war zurück und hat mich die ganze Woche lang belästigt und ich hatte schon Angst, dass das ein ernsthaftes Problem wird. Habe also mit Voltaren geschmiert und gekühlt wie nix Gutes. Irgendwann fiel mir mal auf, dass es nur wehtut, wenn ich dran denke, also vielleicht doch nur Psycho? Habe mich so gut es ging abgelenkt und für den Lauf lieber ne Ration Diclofenac eingepackt, man weiß ja nicht, und so kann man seine Psyche auch austricksen.

Der Start
Aufstehen: 6:00 Uhr
Der Wecker klingelt und ich: Hallo wach! Hier bin ich, sprach das Adrenalin.
Frühstück: 6:30 Uhr
Drei Scheiben Brot mit Honig, eine Banane und dazu eine Tasse Milchkaffee und eine Tasse Pfefferminztee.
Apothekenfrühstück dazu: Magenschutz. Ich kenn mich doch.
Eintreffen: 8:15 Uhr
Alter. Kalt! Sprühregen! Beim Warmlaufen Schienbeinschmerzen. Doch ne Diclofenac geschluckt. Das zog sich vielleicht hin dann...! Arsch abfrieren war angesagt. Viel auf und ab tigern.
Startschuss: 9:00 Uhr.
Nichts von mitbekommen, aber vorne fliegt ne Wolke Luftballons los. Die ersten sind dann wohl weg.
Mein Start: 9:15 Uhr
Auf gehts, ab gehts, mein erster Marathon.

Kilometer 1-5:
Zeit: 31:30 min, 6:18 min/km
Wollte eigentlich langsamer angehen, mit 6:25 -6:30. Aber mir war erstens kalt und zweitens wollte ich den 4:30-Pacemaker nicht so weit weglassen. Obwohl der bisschen zu schnell unterwegs war. War noch ein bisschen nervös, aber nach ein paar Kilometern hatte ich mich auf einen guten Tritt eingefummelt. Reeperbahn runter und dann Richtung Altona. Gleich an der ersten Kurve stehen meine Eltern.

Kilometer 5-10:
Zeit: 31:30 min, 6:18 min/km
Elbchaussee runter Richtung Fischmarkt und Landungsbrücken. Langsam wird mir warm dabei, zwischendurch mal ein Schluck Wasser und weiter. Kurz vor 10 km angefangen, mich mit einer anderen Läuferin zu unterhalten. Jetzt hab ich jemanden zum Bremsen, auch nicht verkehrt.

Kilometer 10-15:
Zeit: 31:52, 6:23 min/km
Von den Landungsbrücken zur Binnenalster. Alter, diese Stimmung. Gänsehaut und so. Der Wahnsinn. Einmal geht es durch einen Tunnel, da drinnen ist es noch wärmer. Moment. Das passiert jetzt wirklich. 9 Lange Jahre davon geträumt... es nie durchgehalten zu trainieren... jetzt aber.

Kilometer 15-20:
Zeit: 33:46 min (Laufzeit 31:46, war einmal für 2 min Pinkeln), 6:46 min/km
Rund um die Binnenalster und an der Außenalster rauf, an der Ecke steht eine Freundin und freut sich. Ich bin echt schon fast halb durch, gibts das? Fühlt sich an wie nix. Rund um die Alster ist natürlich sowieso geil. Aber langsam drückt die Blase, das nächste Klohäuschen ohne Schlange ist meins. Kurz vor 19 km dann eins gefunden, kostete mich nur 2 Minuten.

Kilometer 20-25:
Zeit: 30:51 min, 6:10 min/km
Km 20-21 bin ich ziemlich gerast (5:49), danach wieder mit 6:17... Zeit vom Pinkeln wieder reinholen. Dauerte nicht lange, und der 4:30-Pacemaker ist wieder genauso weit vor mir im Feld wie vor der Pause. dann gehts Richtung Stadtpark, meine Eltern springen am Straßenrand rum, feuern mich lautstark an und Papa rennt ein paar Meter nebenher, und ich erkläre ihm euphorisch, dass es mir noch gut geht. Bei Km 25 stehen noch 2 Freunde. Das gibt nochmal Flügel. Das 25-km-Schild taucht auf und ich denke mir so... im Training wurde das jetzt immer so eklig. Wann kommt das denn? Bald bestimmt. Also lieber nicht noch schneller laufen, und das mit dem Zeit reinholen von eben war vielleicht auch nicht so schlau, die unangenehmen Kilometer kommen ja erst.

Kilometer 25-30:
Zeit: 31:18 min, 6:16 min/km
Immer noch kein Schmerz in Sicht. Keine Müdigkeit. Ich fliege so da lang. Mittlerweile sind wir schon in Ohlsdorf, also am nördlichsten Punkt der Strecke und ab da geht es schon fast "bergab" ins Ziel... Kein Mann mit dem Hammer zu sehen.... Dafür Papa mit Kamera und Mama mit Glocke und Quieke. Meine "Daumen-hoch-Zeichen" werden immer euphorischer.

Kilometer 30-35:
Zeit: 30:49 min, 6:10 min/km
Die 30-km-Marke liegt hinter mir... ich kann fliegen! Immer noch kein Mann mit dem Hammer... Nur noch 12 km... Nur noch 11... Nur noch 10... Weniger als 10... Ich glaube, der Einbruch kommt nicht mehr. ich höre auf, drauf zu warten und geb Gas. Jetzt ist auch egal. Jetzt komm ich auf jeden Fall nach Hause. Bei 33 nochmal meine Eltern am Straßenrand und die Freundin, die schon bei der Alster stand. Einer an der Strecke hat ein Schild "Chuck Norris never ran a Marathon." Und natürlich das obligatorische "Umkehren wär jetzt auch blöd" oder "Im Ziel gibts Bier." Dann gehts runter nach Eppendorf, laufe an der Abzweigung zur Klinik vorbei... Alter... ich bin nicht echt schon bei 35 km... oder doch? Muss ja... wie schnell das ging.
Am Klosterstern ist Lärm, alles kreischt einen an und ich lasse meine Kopfhörer weg und hab ein bisschen Tränen in den Augen. Wahnsinn.

Kilometer 35-40:
Zeit: 29:30 min, 5:54 min/km
Der Einbruch kommt wirklich nicht mehr. Ist das zu fassen! Erster Marathon und wo sind sie, die Mauer, der Hammer??? Nichts! Dafür den Eppendorfer Baum runter... Ich komm nicht klar, diese Stimmung, Bands am Straßenrand, und einmal spielt eine Metalband auf einem Balkon. Geile Scheiße. Da, wo keine Musik ist, hab ich ja eigene mit und ich bin so pervers gut drauf, dass ich Straße fast lieber langtänzeln will als Laufen. Ich überhole inzwischen nur noch, die Leute um mich rum sehen scheiße aus, manche müssen gehen.
Bei 40 km stehen zwei Freundinnen, die sogar ein Plakat für mich gemalt haben. Schon wieder Tränen in den Augen und Gänsehaut.

Kilometer 40-42,195
Zeit: 12:20 min, 5:37 min/km
Ein letztes Mal meine Eltern am Straßenrand, bei Kilometer 41 ruft noch jemand nach mir - Yasmin und ihr Mann stehen da. Ich dreh mich grad noch um, sie steht an einer Kurve, mustert mich kurz, ich seh nur ihre Augen und sie ruft: "Lauf."
Das tue ich dann auch. Schneller und noch schneller und dann kommt schon die letzte Kurve, da vorn ist wieder der Fernsehturm, ich mache die ersten Schritte auf den roten Teppich, dann ist da das Ziel.
Jemand beglückwünscht mich, ich krieg die langersehnte Medaille um und kann es nicht ganz fassen.
Zielzeit: 4:23:26 h
Angedacht war 4:30.
Wahnsinn.
WAHNSINN.

Hinterher:
Yasmin und ihr Mann holen mich ab, sie hat ja meine Sachen und das Finishershirt. Sie umarmt mich, eine von ihren legendären Umarmungen. Noch ein paar Fotos machen, dann fahren wir nach Eppendorf, Kaffee trinken. Mir tut immer noch nichts weh.
Im Cafe sitze ich an Yasmin gelehnt und strahle selig-debil vor mich hin. Honigkuchenpferd deluxe.
Ich bin immer noch high.
Danach dann noch mit Jenny und ihrer Freundin getroffen, sie hat Sekt besorgt, aber ich habe dermaßen Adrenalin, dass ich davon nichts merke.
Ich glaube, ich fahr lieber nach Hause, bevor das nachlässt und der Schmerz einsetzt... ;-)
Zuhause dann noch Sushi bestellt, der Bote hat zwei Paar Stäbchen reingelegt, der glaubt wohl auch nicht, dass man das alles allein futtern kann. Man kann.

Der Tag danach:
Ich bin erstaunlich schmerzfrei. Unter dem Adrenalin und Diclo und den ganzen Endorphinen hat sich zumindest kein ernsthafteres Problem versteckt, nur ein bisschen Muskelkater.
Und jetzt die Preisfrage: Nochmal?
Bestimmt.
Aber kann das nochmal so gut werden? Kann das nochmal so ein Rausch werden, so ein Wahnsinn, so ...?
Ich weiß es nicht...
Naja, eigentlich doch. Das war vielleicht der schönste erste Marathon, den ich mir vorstellen konnte, aber bestimmt nicht der letzte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen